Wie Progressive das Bewahren-Narrativ für sich nutzen können

„Konservative haben es leichter. Sie wollen den Status Quo nur bewahren, während Progressive ihn verändern wollen.“

Diese Erzählung hast du vielleicht schon gehört. Uns ist sie bereits öfter begegnet. Sie stützt sich auf die lateinische Wortherkunft der beiden politischen Richtungen: „conservare“ bedeutet „bewahren“ und „progressus“ bedeutet „Fortgang“ bzw. „Fortschreiten”.

Progressive ziehen daraus den falschen Schluss, dass sie bei der Durchsetzung politischer Maßnahmen im Nachteil und Konservative im Vorteil sind. Tatsächlich wollen jedoch beide Seiten ihre jeweiligen Werte bewahren und die Gesellschaft entsprechend ihrer Idealvorstellungen verändern.

Konservative verändern permanent

Konservative Politik hat in den vergangen Jahrzehnten die Gesellschaft maßgeblich nach ihren Idealen gestaltet: Es wurde privatisiert was das Zeug hält, klimaschädliche Mobilität und Energie subventioniert, Steuern für Reiche gesenkt, Gewerkschaften und Arbeiter:innen geschwächt und öffentliche Versorgung auf allen Ebenen reduziert.

Und sie wollen es nicht dabei belassen: Mit ihrer „Agenda für Deutschland“ hat zum Beispiel die CDU/CSU kürzlich ein Positionspapier voller Änderungen herausgebracht. Darin fordern sie eine Verschärfung des Asylrechts, mehr Geld für die NATO, ein höheres Renteneintrittsalter, mehr Überstunden und geringere Steuern für Erben und Immobilienbesitzende.

Konservative Narrative als Erfolgsfaktor

Möglich wurden all diese Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte nicht durch krampfhaftes Bewahren-Wollen, sondern durch konservative Narrative. Seit dem Aufschwung des Neoliberalismus in den 1970er Jahren ebneten konservative Narrative den Weg für konservative Politik. Heute sind sie tief über Gesetze und Institutionen verankert. Sie sind der Ausgangspunkt für politische Debatten und prägen den medialen Diskurs. Sie werden ständig verbreitet und wiederholt. Dadurch werden sie immer mehr von der Bevölkerung akzeptiert. Kurz gesagt: Konservative Narrative sind zum Mainstream geworden. Und das macht es Politiker:innen leichter, konservative Politik umzusetzen.

Konservative nutzen das Bewahren-Narrativ für sich

Konservativen die Rolle der Bewahrenden zuzuschreiben macht es ihnen unnötig leicht. Sie nutzen diese Rolle auf der sprachlichen Ebene. Adjektive wie „stabil“, „sicher“ und „stark“ durchziehen das Wahlprogramm der CDU/CSU zur Bundestagswahl 2021.

Wenn Progressive die Rolle der Bewahrenden von sich weisen und sie Konservativen zuschreiben, entfernen sie sich vom Versprechen von Sicherheit und Stabilität. Platt gesagt drücken sie aus: „Mit den Konservativen habt ihr es sicher und bequem. Mit uns wird es anstrengend und es könnte euch schlechter gehen.“

Dass man damit keine Mehrheiten gewinnt, sollte einleuchtend sein. Viel problematischer ist jedoch, dass es nicht stimmt. Progressive wollen Sicherheit und Stabilität für Menschen. Das ist der Grund, warum sie sich für Klimaschutz und Umverteilung einsetzen. Alle Menschen sollen genau so sicher und sorglos leben können, wie es aktuell nur Reichen und Privilegierten vergönnt ist. Sicherheit und Stabilität sind zentrale Bedürfnisse jedes Menschen. Diese Konservativen zu überlassen reduziert die Durchsetzungskraft progressiver Politik.

Was Progressive mit dem Bewahren-Narrativ tun können

Progressive sollten sich nicht in die Rolle einer Randgruppe begeben, die gegen den Status Quo und eine vermeintliche Mehrheit ankämpft. Dieses Selbstverständnis färbt sich auf die Kommunikation ab, die meist von Kritik und Protest geprägt ist und dabei Lösungen und Vorteile vernachlässigt. Aufgrund zahlreicher progressiver Errungenschaften können sich Progressive genau so gut als Bewahrer:innen des Status Quo inszenieren und für Sicherheit und Stabilität einstehen.

Progressiven Status Quo verteidigen

Der Status Quo ist von vielen progressiven Errungenschaften geprägt: öffentliche Bildungseinrichtungen, das solidarisch finanzierte Rentensystem, das Frauenwahlrecht, die 5-Tage-Woche oder der Mindestlohn. Die meisten Menschen wollen sie nicht mehr missen.

Wenn solche Mainstream-Institutionen von konservativer Seite angegriffen werden – bspw. durch die Forderung nach einem höheren Renteneintrittsalter oder der Aktienrente – können Progressive diese als realitätsfern und nicht mehrheitsfähig darstellen.

Bewahren nachteilig auslegen

Umgekehrt können Progressive das Bewahren-Narrativ gegen konservative Politik verwenden, wenn diese z.B. Klimaschutzmaßnahmen oder den Ausbau von öffentlicher Infrastruktur blockiert. In solchen Fällen kann das Bewahren-Narrativ als rückwärtsgewandt, fortschrittsfeindlich und passiv geframed werden. Das passierte in den letzten Monaten häufiger, als Grüne und SPD ihrem Koalitionspartner FDP eine Blockade-Haltung vorwarfen.

Werte der Gegenseite kennen

Nur Blockade vorzuwerfen reicht jedoch meistens nicht, weil die Gegenseite gute Gründe für die Blockade nennen kann, die im Sinne ihres Wahlversprechens sind. Das ist der Punkt, an dem sich Progressive mit den tatsächlichen Überzeugungen hinter politischen Forderungen beschäftigen sollten. Oftmals verstecken sich hinter konservativen Forderungen menschenfeindliche und undemokratische Ansichten. Diese aufzudecken ist für die Gegenargumentation viel stärker als die Frage nach Bewahren oder Verändern.

Eigene Werte kennen, schützen und stärken

Aus der Geschichte lässt sich lernen, dass politische Veränderungen immer möglich sind. Progressive haben selbst in der Vergangenheit die Gesellschaft entsprechend progressiver Werte gestaltet. Wer die eigenen Werte kennt, sie in den Diskurs trägt und institutionalisiert, kann die Gesellschaft verändern.

Obwohl konservative Narrative den Diskurs dominieren und den Mainstream prägen, tragen alle Menschen progressive Werte in sich. Diese warten nur darauf, durch entsprechende Erzählungen aktiviert und gestärkt zu werden. Progressive sollten dieses Potential nutzen statt sich von vornherein einzureden, dass es keine Mehrheiten für ihre Positionen gibt.


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