Über Moral sprechen ohne zu moralisieren
Moralisieren, Moralismus, Moralpredigt. In politischen Debatten werden solche Begriffe meist als Abwertung verwendet. Das Ziel: Die eigene Position als sachlich und vernünftig und die der Gegenseite als irrational und überheblich darstellen. Dahinter steht die Annahme, dass Politik ohne Moral möglich ist.
Oft lassen sich Progressive von dieser Taktik einschüchtern, nehmen Abschied von moralischen Argumenten und reagieren mit Rechtfertigung und Fakten. Dabei sind moralische Differenzen die Ursache jeder politischen Auseinandersetzung und deshalb entscheidend für politische Kommunikation.
Politik ist immer moralisch und Moral nicht universell
Wenn Politik und Debatten ohne Moral gefordert werden, steckt dahinter meistens der Glaube, dass alle Menschen die gleichen Moralvorstellungen hätten. Das ist nicht der Fall.
Moralvorstellungen sind Überzeugungen, was gut und was schlecht bzw. was gerecht und was ungerecht ist. Sie entwickeln sich aus Erziehung, Lebenserfahrungen und medialem Diskurs und können z.B. je nach Elternhaus, Land oder Religion unterschiedlich ausfallen.
Zwar können Moralvorstellungen über gesellschaftliche Normen und Gesetze formal festgelegt werden, aber selbst dann können sie unterschiedlich ausgelegt werden, wie Debatten über Menschenrechte regelmäßig zeigen.
Wenn alle Menschen die gleichen Vorstellungen von Gut und Schlecht bzw. Gerecht und Ungerecht hätten, gäbe es keine Ideologien, keine Parteien und keine lebendigen Debatten. Politiker:innen würden nicht zu unterschiedlichen Maßnahmen bei gleicher Faktenlage kommen. Ohne moralische Unterschiede gäbe es keine Politik.
Wahlentscheidungen basieren auf Moral, nicht auf Eigennutz
Ein weiterer Trugschluss ist, dass Menschen für ihre ökonomischen Interessen wählen. So wird regelmäßig AfD-Wählenden vorgeführt, dass sich mit der AfD ihre Lebensverhältnisse verschlechtern würden. Die Kognitionswissenschaft hat jedoch herausgefunden, dass moralische Werte eine viel wichtigere Rolle bei politischen Entscheidungen spielen als der eigene Nutzen.
Das hängt damit zusammen, wie das menschliche Gehirn funktioniert und Informationen verarbeitet. 98% des Denkens findet unbewusst statt. Informationen werden nicht vorwiegend rational abgewogen, sondern unbewusst mit den im Gehirn gespeicherten Weltwissen und Werten in Verbindung gebracht. Informationen werden als besonders relevant eingestuft, wenn sie zu bereits existierendem Wissen und vorhandenen Werten passen. Aus diesem Grund sind politische Vorhaben populär, solange sie mit bestehenden Werten und Moralvorstellungen konsistent sind, selbst wenn sie gegen die eigenen ökonomischen Interessen gehen.
Moral ≠ Moralisieren
Wenn Moral zum Vorwurf wird, ist damit meistens Moralisieren gemeint. Moralisieren stellt das eigene Verhalten und die eigenen Ansichten als etwas Besseres dar. Das zeigt sich zum Beispiel als Spott oder individuelle Konsumkritik. Mit Witzen, Memes und ironischen Kommentaren wird sich über Ansichten und Aussagen der Gegenseite lustig gemacht. Oder Menschen werden für ein Verhalten kritisiert, das systemisch erzwungen bzw. politisch gefördert wird.
Moralisieren bringt immer eine Überheblichkeit und damit eine Abwertung des Gegenübers mit sich. Die Folge: Das Gegenüber hat keine Lust zuzuhören, geschweige denn Verständnis oder Unterstützung für die kommunizierten Ansichten aufzubringen. Moralisieren verhindert deshalb verschiedene gesellschaftliche Gruppen zu vereinen und für progressive Vorhaben zu begeistern. Stattdessen führt Moralisieren zu Distanzierung und Abneigung. In unserem Leitfaden raten wir deshalb davon ab.
Richtig über Moral sprechen
Wie sieht also eine Kommunikation aus, die die Bedeutung von Moral für die Politik anerkennt und trotzdem nicht moralisiert?
Moralvorstellungen transparent machen
Der Vorwurf des Moralisierens kommt meistens von rechts und soll die eigene Moralvorstellung verstecken und als alternativlos darstellen. Der Vorwurf will die moralische Debatte im Keim ersticken, damit die eigene Moral gar nicht erst verteidigt werden muss.
Progressive sollten den Vorwurf nicht annehmen und vor allem nicht selbst nutzen. Die beste Reaktion auf diesen Vorwurf ist die eigenen Moralvorstellungen und die der Gegenseite für die Öffentlichkeit transparent zu machen und die Frage nach Gerechtigkeit aus progressiver Sicht zu beantworten.
Ihr wollt … , weil ihr findet, dass …
Wir finden, dass … und deshalb tun wir …
Beispiel: „Ihr wollt Grenzen aufbauen, weil ihr findet, dass Geflüchtete kein freies und sicheres Leben verdient haben. Wir wollen, dass alle Menschen frei und sicher leben können und schaffen deshalb die Voraussetzungen dafür.“
Eigene Botschaften senden statt auf die Moral der Gegenseite zu reagieren
Gerade in sozialen Medien findet häufig Empörung und Belustigung über Aussagen der Gegenseite statt. Zwar können Satire, Ironie und Humor helfen, um mit den Absurditäten in Politik und Gesellschaft umzugehen, aber dadurch werden konservative Ansichten wiederholt, denen man eigentlich etwas entgegensetzen will.
Nicht nur geht dafür knappe Aufmerksamkeit drauf, sondern durch die bloße Wiederholung werden konservative Werte in der Gesellschaft gestärkt. Statt sich über die Gegenseite lustig zu machen, sollten Progressive ihre eigenen Ideen verbreiten und die Gegenseite links – oder besser gesagt rechts – liegen lassen.
Progressive Werte ansprechen
Fast alle Menschen tragen progressive Werte und Moralvorstellungen in sich. Progressive Werte zu kommunizieren erreicht all diese Menschen, egal welchen progressiven Schwerpunkt sie haben oder ob sie sich selbst als konservativ, bürgerlich oder liberal einordnen. Damit wird die Kommunikation anschlussfähig und verbindend ohne zu moralisieren.
Selbst unpopuläre Maßnahmen können mehrheitsfähig gemacht werden, wenn sie mit progressiven Werten verknüpft werden und dadurch übergreifende Moralvorstellungen aktivieren. Ein Beispiel ist die Kampagne „Deutsche Wohnen & Co enteignen“, die mit dem Slogan „Damit Berlin unser Zuhause bleibt“ das Recht auf Wohnen, Heimat und Unabhängigkeit in den Vordergrund gestellt hat und damit 59% der Berliner:innen für die Enteignung gewinnen konnte.
Progressive sollten nicht darauf eingehen, wenn versucht wird Moral in politischen Debatten zu umgehen. Moralische Debatten sind die Grundlage für gesellschaftlichen Fortschritt. Deshalb ist es essentiell die eigenen Moralvorstellungen und Werte selbstbewusst zu kommunizieren.
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