Reframing Sozialstaat: Freiheit statt Schutz

Der Sozialstaat wird immer wieder von konservativer Politik angegriffen, aktuell durch die CDU mit ihrer „Agenda für die Fleißigen“. SPD und Grünen fällt es offenkundig schwer, den Sozialstaat zu verteidigen, obwohl sie in der Regierung sind: Die Ampel hat Sanktionen beim Bürgergeld kürzlich wieder eingeführt und damit die bedeutendste Änderung der Hartz-IV-Reform rückgängig gemacht – ein Ergebnis konservativer Hetze gegen Menschen, die Bürgergeld erhalten.

Doch das Problem fängt nicht erst bei der Hetze an, sondern bereits beim Framing des Sozialstaats und dessen Funktionen. Progressive übernehmen zu häufig konservatives Framing und tragen dadurch den Abbau des Sozialstaats mit.

Tipp: In Kapitel 3 unseres kostenfreien Handbuchs haben wir das Wichtigste über Framing zusammengefasst.

Konservatives Framing: Der Sozialstaat schützt die Schwachen

Konservative Sprache stellt den Sozialstaat als Institution dar, die die Schwachen schützt. Damit transportiert sie die hierarchische Perspektive auf unsere Gesellschaft inklusive der Definition von schwachen Menschen: Menschen sind schwach, wenn sie nicht für sich selbst sorgen können und auf die Hilfe anderer angewiesen sind. Der Sozialstaat ist dafür da, schwachen Menschen zu helfen, bis sie wieder für sich selbst sorgen können.

Daraus ergeben sich zwangsläufig die häufigsten konservativen Streitpunkte beim Sozialstaat:

  • Wer ist wirklich auf Hilfe angewiesen und wer täuscht es nur vor?
  • Wie lange braucht ein Mensch, um wieder für sich selbst sorgen zu können?

Progressive können in so einer Debatte nicht überzeugen, weil das Sozialstaat-Framing von vornherein konservativ ist: Es lenkt Debatten auf die oben genannten Fragen und wird damit zur Quelle der gängigen Vorurteile und Stigmatisierungen, gegen die Progressive dann ankämpfen müssen.

Schutz vor einer gefährlichen Welt

Die konservative Perspektive definiert nicht nur Schwäche, sondern auch Stärke: Starke Menschen handeln nach ihren Vorteilen und holen das Beste für sich heraus. Für eine Gesellschaft bedeutet das zwangsläufig: Wenn alle so handeln, arbeitet jede:r nur für sich. Man kann deshalb anderen nicht trauen. Man sollte sich nur auf sich selbst verlassen.

Dieser misstrauische Blick auf Mitmenschen steht im starken Kontrast zum progressiven Welt- und Menschenbild: Dieses lebt von Wohlwollen und Vertrauen. Sie sind die Grundlage für das Leben in einer Gemeinschaft. Dass der Mensch Teil einer Gemeinschaft ist, sieht die progressive Perspektive nicht als Abhängigkeit, sondern als Stärke: Gemeinsam erreichen wir mehr.

Der progressive Ruf nach Schutz durch den Sozialstaat ist deshalb eine Reaktion auf das konservative Weltbild und bleibt damit im konservativen Framing: In einer Welt voller egoistischer Einzelkämpfer brauchen „schwache“ Menschen Schutz.

Schutz als Framing-Falle

Der Schutz-Begriff ist ein Grund, warum die konservative Definition des Sozialstaats zum Mainstream werden konnte, den selbst vermeintlich progressive Parteien vehement vertreten. Schutz ist eigentlich vorrangig ein progressives Konzept, das hier aber gekonnt konservativ reframed wird. Der Schutz-Begriff an sich aktiviert zuerst das progressive Wertesystem im Gehirn und verdeckt dadurch die eigentlich konservative Perspektive auf den Sozialstaat und macht sie so für Progressive anschlussfähig.

Konservativer Schutz ist aber Schutz durch eine Autoritätsperson, was sich auch in konservativer Sprache durch Begriffe wie „Bevormundung“ oder „Verbote“ zeigt. Schutz setzt immer die Machtlosigkeit der zu schützenden Person voraus. Diese Machtlosigkeit ist aber genau das, was progressive Politik bekämpfen und verringern will.

Progressiver Schutz sieht anders aus. Progressive „Schutzmaßnahmen“ sind Regeln für Unternehmen, wie z.B. Arbeitszeitregulierungen oder Umweltstandards, die Wasser und Luft gesund halten. Auch beim Sozialstaat geht es für Progressive nicht um Schutz im konservativen Sinn, sondern vielmehr um Empathie und gegenseitige Fürsorge: Weil einem andere Menschen wichtig sind, will man, dass es ihnen gut geht, ganz egal welche Ausgangslage sie haben. Das Ziel ist, dass alle Menschen ein freies, sicheres und selbstbestimmtes Leben führen können. Deshalb ist Freiheit die bessere Metapher für ein progressives Sozialstaat-Narrativ.

Progressives Framing: Der Sozialstaat garantiert Freiheit

Den Sozialstaat als „Schutz für die Schwachen“ zu framen ignoriert seine gesamtgesellschaftliche Rolle: Absicherung für alle, egal ob jung oder alt, schwarz oder weiß, krank oder gesund, angestellt oder anderweitig arbeitend.

Die Absicherung durch die Gemeinschaft gewährt jedem einzelnen Menschen die Freiheit, ein selbstbestimmtes und sorgenfreies Leben zu führen – eine Freiheit, die individuelle Absicherung niemals gewährleisten könnte (ein Grund, warum die meisten Menschen Versicherungen abschließen).

Aber auch wenn man den Sozialstaat weiter als eine reine Absicherung denkt, funktioniert die Freiheitsmetapher: Öffentliche Daseinsvorsorge, staatliche Regulierungen sowie Auflagen für Eigentümer:innen haben alle den Zweck, Menschen ein freies Leben zu garantieren:

  • Öffentliche Gesundheitsversorgung ist Freiheit. Wer krank oder verletzt ist und keinen Zugang zu medizinischer Versorgung hat, stirbt, bleibt krank oder erleidet Folgeschäden und ist für den Rest des Lebens eingeschränkt. Wer hingegen gesund ist, ist frei.
  • Öffentliche Schulen sind Freiheit. Wer sich auf das Leben vorbereiten soll, aber keine kostenlose und geprüfte Bildung erhält, kann sich keine freie Meinung bilden und keine freien Entscheidungen treffen. Wer hingegen Wissen hat, ist frei.
  • Bezahlbarer Wohnraum ist Freiheit. Wer für die Arbeit oder die Familienplanung umziehen möchte, aber keinen bezahlbaren Wohnraum findet, kann sich nicht frei im Leben entfalten. Wer hingegen flexibel umziehen kann, ist frei.

Am Ende erhalten nicht nur wenige Menschen „staatliche Leistungen“, sondern alle Menschen permanent „gemeinschaftliche Freiheitsdienste“. Alle profitieren vom Sozialstaat.

Freiheit wieder für sich beanspruchen

Framing-Vater George Lakoff sagt bereits seit vielen Jahren, dass Progressive den Freiheitsbegriff nicht den Konservativen überlassen sollten:

Conservatives have come to own the words freedom and liberty. These words weigh heavily in the conservative vocabulary. These words are among the most powerful in our politics because of the centrality of the concept of freedom to democracy. Conservatives have no right to that ownership.

​In den USA entdecken Progressive den Freiheitsbegriff langsam wieder für sich, wie zuletzt in Kamala Harris’ Wahlwerbespot. In Deutschland steht das noch aus.

Ein Lichtblick war die Aussage von Svenja Appuhn von der Grünen Jugend in einer Markus-Lanz-Sendung, die wir in unserem Podcast kommentiert haben. Dort sagte sie, dass das Bürgergeld die Absicherung und Verhandlungsposition aller Beschäftigten stärkt.

Das geht schon in die richtige Richtung, wenn auch etwas kompliziert formuliert. „Es geht um die Freiheit aller Menschen, ihren Job wechseln zu können und Nein zu schlechten Arbeitsbedingungen sagen zu können.“ Diese Aussage hätte noch besser funktioniert.

Freiheit statt Schutz

Das progressive Framing für den Sozialstaat ist Freiheit statt Schutz. Es geht nicht darum, wie im konservativen Gerechtigkeitsverständnis, Menschen in stark und schwach zu unterteilen und dann „die Schwachen“ zu schützen. Im Gegenteil, der Sozialstaat ermöglicht allen Menschen ein Leben in Freiheit, selbst wenn uns individuelle Schicksalsschläge treffen.

Jeder konservative Angriff auf den Sozialstaat bietet Progressiven die Chance, diese Freiheit und Sicherheit hervorzuheben, die wir alle durch den Sozialstaat gewinnen. Die positiven Vorteile aus der Gemeinschaft sind die Gründe, warum Progressive für den Sozialstaat sind, nicht der Schutz von Menschen, die konservativ abgewertet wurden.

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