Progressive Werte mit der Gießkanne
Seit der Energiekrise fällt ein Wort wieder besonders oft im Diskurs: die Gießkanne.
Meistens nutzen Progressive die Metapher als etwas Schlechtes und kritisieren mit ihr pauschale, sozialpolitische Maßnahmen. Dabei ist Politik mit der Gießkanne eine Chance, progressive Werte zu kommunizieren.
Was ist die Gießkanne?
Die Gießkanne beschreibt politische Maßnahmen, die eine breite Masse betreffen. Die Metapher wird in der Regel abwertend genutzt. SPD, Grüne und Linke kritisierten damit zuletzt Entlastungen, die auch Menschen zugute kamen, die aufgrund ihrer finanziellen Lage nicht unbedingt eine Entlastung brauchten. Beispiele sind das 9-Euro-Ticket und der Tankrabatt im vergangenen Jahr. Aber auch die staatliche Zurückhaltung bei der Wohnungsbauförderung wurde neulich bei der Bundespressekonferenz mit einem „weg vom Gießkannen-Prinzip“ begründet.
Alternative: Die Pipette
Aus Sicht vieler Linken seien „gezielte“ Maßnahmen der bessere Weg: Sie entlasten nur diejenigen, die es wirklich brauchen. Das sei gerecht und schone den Staatshaushalt.
Linke glauben, sie argumentieren progressiv, wenn sie sich für gezielte Maßnahmen einsetzen. Aber diese selektive „Pipetten-Politik“ basiert auf falschen Annahmen und schadet der Kommunikation progressiver Werte: Sie spricht dem Staat seine Handlungsfähigkeit ab, stärkt konservative Narrative und spielt soziale Gruppen gegeneinander aus. Sie vermittelt das Gegenteil von progressiver Politik und gibt Mehrheitsfähigkeit auf.
Schutz statt Bürokratie
Pipetten-Politik führt zu mehr Aufwand und Bürokratie: Bürger:innen und Unternehmen müssen Anträge stellen, was wiederum die Ämter überlastet, solange dort nicht mehr Leute eingestellt oder Strukturen verändert werden. Durch die Überlastung müssen die Antragstellenden lange auf finanzielle Hilfen warten. Das ist mindestens mit Unsicherheit und Stress verbunden und bedroht im schlimmsten Fall die Existenz. Ein aktuelles Beispiel ist die Energiepauschale von 200€, auf die Studierende bereits seit Monaten warten.
Konservative argumentierten in jüngsten Debatten zu Recht, dass nicht nur in Armut lebende Menschen von der Energiekrise betroffen sind. Es brauche deshalb schnelle, unbürokratische Lösungen, um den explodierenden Energiepreisen zu begegnen. Damit positionierten sie sich als Schützer:innen der Mittelschicht und überließen Progressiven die Kleinkrämerei.
Genau das Gegenteil sollte passieren. Progressive sollten breite Entlastungen fordern, weil sie dadurch progressive Werte wie Schutz und Fürsorge vertreten. Ein Staat, der unter dem Vorwand der Eigenverantwortung nur das Notwendige tut, ist ein konservativer Staat.
Es ist genug Geld da
Warum lehnen Progressive die Gießkanne so häufig ab und greifen zur Pipette? Einer der Hauptgründe ist der Glaube, dass Geld knapp ist. Er bringt Progressive dazu, erst Geld von Reichen durch Steuern einnehmen zu wollen, bevor sie Entlastungen und andere Investitionen anstoßen.
Das ist aber gar nicht nötig. Ein Staat wie Deutschland mit hoher Wirtschaftsleistung und einer stabilen Währung wie dem Euro kann sich jederzeit hohe Geldsummen besorgen. Das konnte man in den letzten Jahren an den zahlreichen Rettungen von Banken und Unternehmen, den Corona-Hilfen und den 100 Milliarden für die Bundeswehr gut beobachten.
Eine genaue Erklärung, wie ein Staat an sein Geld kommt, erhaltet ihr in diesem Video von Maurice Höfgen auf seinem YouTube-Kanal „Geld für die Welt“, den wir wärmstens empfehlen.
Dass Geld knapp sei, ist ein ideologischer Mythos der Neoliberalen, der die staatliche Handlungsfähigkeit künstlich einschränkt. Er hat zu wirtschaftlich problematischen Regeln wie der europäischen und nationalen Schuldenbremse geführt. Progressive stehen nun vor der Herausforderung, diese Regeln zu ändern und – bis es so weit ist – innerhalb dieser Regeln progressive Politik zu machen.
Die Regeln werden sich aber nicht ändern, wenn Progressive den „Geld ist knapp“-Mythos unreflektiert übernehmen, verbreiten und ihre Maßnahmen danach ausrichten. Dadurch stärken sie das konservative Narrativ eines machtlosen Staats, der zur selbsterfüllenden Prophezeiung wird, je mehr Geld und damit Macht dem Staat entzogen wird. Stattdessen sollten Progressive das Bild eines wirksamen, gestaltenden Staats vermitteln.
Progressive Politik für alle statt Klientelpolitik für Arme
Linke Kommunikation konzentriert sich häufig zu stark auf Maßnahmen für in Armut lebende Menschen. Das verhindert Mehrheiten, weil sich niemand so richtig zu dieser Gruppe zählen möchte und sich alle aus der Armut befreien wollen. Zudem werden soziale Gruppen gegeneinander ausgespielt, die eigentlich aufgrund gemeinsamer Interessen zusammenhalten sollten. Das konnten wir zuletzt bei der Debatte ums Bürgergeld erleben: Die CDU hatte es geschafft, dass sich arbeitende Menschen mit geringem Einkommen durch das Bürgergeld ungerecht behandelt fühlten.
Man kann sich nun über die CDU ärgern. Aber der Fehler liegt auch in der Reaktion der Progressiven: Sie hätten das strukturelle Problem des Niedriglohnsektors anerkennen und Lösungen anbieten können – nach dem Motto „sowohl als auch“ statt „entweder oder“.
Progressive Politik ist Mehrheitspolitik und muss auch so kommuniziert werden. Das progressive Wertesystem hat eine demokratische, kooperative und selbstbestimmte Gesellschaft zum Ziel. Das schließt sämtliche Bevölkerungsgruppen ein und fordert in vielen Fällen Politik mit der Gießkanne.
Ein selektiver Ansatz ist hingegen keine progressive Antwort auf gesamtgesellschaftliche Herausforderungen, wie wir sie aktuell mit der Energiekrise erleben. Die progressive Antwort ist eine inklusive Politik und Kommunikation, die strukturelle Ursachen und gemeinsame Werte aufzeigt. Dadurch stärken Progressive nicht nur Solidarität, sondern vertreten auch glaubhaft den Anspruch, Politik für Mehrheiten zu machen.
Progressive sollten aufhören die Gießkanne als etwas Negatives zu verwenden. Denn die Gießkanne steht symbolisch für Werte, die Progressive im Diskurs vertreten und stärken sollten.
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